„Bis heute basiert alles auf Goodwill“

Zum Inhalt springen
14. Januar 2025, 10:03 Uhr

Artikel: „Bis heute basiert alles auf Goodwill“

Beim Deutschland-Ticket vermisst Dr. Oliver Mietzsch klare Regulierung. Drittnutzerfinanzierung wäre für den Geschäftsführer von WestfalenTarif und OWL Verkehr eine Option.

Zukunft Nahverkehr: Herr Dr. Mietzsch, Volkswirt:innen sprechen beim Deutschland-Ticket oft von einem positiven Saldo. Als Geschäftsführer der WestfalenTarif GmbH und der OWL Verkehr GmbH kommen Sie vermutlich zu einem anderen Ergebnis, oder?  

Oliver Mietzsch: Klar. Wenn man das Deutschland-Ticket aus Sicht derer betrachtet, die das Ganze auf Straße und Schiene bringen müssen, hat man natürlich eher die betriebswirtschaftliche Situation im Blick. Beim WestfalenTarif, in dessen Tarifgebiet rund 6,7 Millionen Menschen leben, summieren sich die Verluste auf 70 Prozent der Einnahmen aus dem Restsortiment. Für eine Tariforganisation, die sicherstellen muss, dass die Einnahmen aus den verschiedenen Verkehrsleistungen unter den Verkehrsunternehmen gerecht verteilt werden, ist das eine enorme Herausforderung. Insofern kann ich gut verstehen, dass viele hier erstmal die Finanzierungslücken sehen.  

Zukunft Nahverkehr: Diese Lücken werden mit drei bis vier Milliarden Euro beziffert, die durch das Deutschland-Ticket kannibalisierten Einnahmen von Bestandskunden mit rund 2,3 Milliarden Euro. Wie erklärt sich diese Differenz?  

Oliver Mietzsch: Wenn die Unternehmen sagen, sie bräuchten mindestens drei oder eher vier Milliarden, dann beziehen sie neben dem harten Kannibalisierungseffekt auch die enorm gestiegenen Treibstoff- und Personalkosten mit ein. Aufgrund der spezifischen Kostenstruktur im ÖPNV liegen die Preissteigerungen hier weit über der offiziellen Inflationsrate. Hinzu kommt der Umstand, dass die Verkehrsbranche den pandemiebedingten massiven Einbruch der Nachfrage bis heute noch nicht vollständig kompensiert hat. Folglich gilt das letzte Jahr vor der Pandemie, also 2019, als Referenzwert für die Berechnung der Finanzierungslücke. Das muss man sich einfach vergegenwärtigen, wenn man über den Schaden aus dem Deutschland-Ticket oder dem 9-Euro-Ticket spricht.   

Zukunft Nahverkehr: Wie stark fällt der Umstand ins Gewicht, dass das Deutschland-Ticket nicht immer dort erworben wird, wo die Leistung in Anspruch genommen wird.   

Oliver Mietzsch: Unternehmer stehen beim Deutschland-Ticket vor derselben Situation wie beim 9-Euro-Ticket: Man kann es in München kaufen und in Bielefeld damit herumfahren. Allerdings ist nicht geklärt, wie das Geld von München nach Bielefeld kommt. Die Öffentlichkeit kriegt das zwar nicht mit, aber als Unternehmensverantwortlicher wüsste man schon gerne, dass die Verkehrsleistung, die man anbietet, entsprechend vergütet wird. Hier wird sichtbar, dass es Bund und Länder bis zum heutigen Tage versäumt haben, einen rechtlichen Rahmen bereitzustellen, der Spielregeln und Ansprüche aller Akteure eindeutig definiert. Das basiert bis heute alles auf Goodwill derer, die das Deutschland-Ticket verkaufen und vor allem derjenigen, die die Verkehrsleistung erbringen. Solange Bund und Länder das Defizit ausgleichen, kann man sich damit vielleicht noch arrangieren …   

Zukunft Nahverkehr: … aber die drei Milliarden von Bund und Ländern sind aktuell nur für 2025 zugesagt. Gäbe es alternative Optionen?  

Oliver Mietzsch: Wenn das Deutschland-Ticket einen volkswirtschaftlichen Nutzen hat, halte ich es auch für gerechtfertigt, über einen nutzungsunabhängigen Finanzierungsbeitrag nachzudenken. Schließlich profitieren nicht nur die Fahrgäste von Bus und Bahn davon, sondern zum Beispiel auch diejenigen, deren Gewerbestandorte durch ein verbessertes ÖPNV-Angebot leichter erreichbar sind. Die brauchen dann weniger Stellplätze für Kunden oder Arbeitnehmer vorzuhalten und sparen damit Kosten für die Versiegelung bzw. Gewinnen Flächen für lukrativere Nutzungen. Die Diskussion über die Drittnutzerfinanzierung des ÖPNV ist zwar nicht neu, aber ich habe den Eindruck, dass sie mit dem Deutschland-Ticket wieder Fahrt aufnimmt. Baden-Württemberg hat erst kürzlich unter anderem eine von allen Einwohnern einer Kommune solidarisch finanzierte Angebotsverbesserung samt Bürgerticket für alle betroffenen Einwohner ins Spiel gebracht. Frankreich erhebt schon lange flächendeckend eine Arbeitgeberabgabe zur Finanzierung des ÖPNV-Angebots in den Kommunen, ähnliches passiert in Wien. Denkbar wäre aber auch die Erhebung einer City-Maut für PKW oder eine ÖPNV-Abgabe von PKW-Haltern, deren Einnahmen dann dem ÖPNV zugutekommen. Auch in NRW sollen laut Koalitionsvertrag die Möglichkeiten der Drittnutzerfinanzierung für Kommunen geprüft und entsprechende gesetzliche Voraussetzungen geschaffen werden.  

Zukunft Nahverkehr: Aktuell sieht es eher danach aus, als würde weiterhin auf Sicht finanziert. Gibt es manchmal auch Momente, in denen Sie sich das alte Tarifsortiment und die verloren gegangenen Einnahmen wieder zurückwünschen?  

Oliver Mietzsch: Das Deutschland-Ticket ist aus der Praxis nicht mehr wegzudenken. Als Tariforganisation sind wir gerade dabei, unser Sortiment radikal zu verschlanken. Das Deutschland-Ticket hat da wie ein Turbo gewirkt. Das wollten und könnten wir gar nicht wieder rückgängig machen.