„Die Zahlen überraschen nicht.“

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04. November 2024, 15:55 Uhr

Artikel: „Die Zahlen überraschen nicht.“

Die Mobilitätswende macht Schlagzeilen. Trotzdem meldet das Kraftfahrtbundesamt mehr Autos als je zuvor. Smart-Mobility-Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder weiß, warum.

Zukunft Nahverkehr: Herr Kleebinder, in Deutschland sind 49,1 Millionen PKW zugelassen. In der ÖPNV-Blase waren viele von dem neuen Rekord überrascht. Sie auch? 

Hans-Peter Kleebinder: Die Zahlen überraschen mich nicht, weil unsere gesamte Industriepolitik auf Erwerb, Kauf und Besitz von PKW ausgerichtet ist. Das zeigen auch die jüngsten Maßnahmen zur Förderung von Dienstwagen. Warum aber sollten sich die Zahlen ändern, wenn sich Politik und Förderlogik nicht ändern. 

Zukunft Nahverkehr: Was wäre stattdessen nötig? 

Hans-Peter Kleebinder: Wir sollten nicht mehr den Fahrzeugbesitz, sondern den Zugang zu Mobilität und die Nutzung in den Mittelpunkt stellen. Private PKW stehen 23 Stunden pro Tag und sind im Schnitt mit 1,2 Personen besetzt, wenn sie fahren. Das ist auch deshalb so, weil wir keine Anreize bieten, vorhandene Pkw besser auszulasten. Ride-Hailing, Fahrgemeinschaften, BlaBlaCar – in unserem Nachbarland Frankreich werden solche Nutzungsformen steuerlich gefördert. Davon sind wir meilenweit entfernt. Die Orientierung an Zulassungszahlen ist überholt und falsch. Neben Neufahrzeugen ist die Haltedauer wichtige Messgröße. Der Bestand wächst auch, weil unsere Fahrzeuge immer länger halten: 2010 lag die Haltedauer im Schnitt bei 8,2 Jahren, heute sind es 10,5 Jahre. Was uns fehlt, ist ein langfristige Mobilitätsstrategie. Denn solange wir keinen langfristigen Masterplan auf Basis eines partei- und legislaturübergreifenden Konsenses haben, wird sich auch bei der Mobilitätswende wenig tun. Das wird 2025 einer der wichtigsten Aufgaben für die neu gewählte Regierung. 

Zukunft Nahverkehr: Bisher fehlte dieser Konsens. Wo sollte er nun herkommen?  

Hans-Peter Kleebinder: Wir brauchen eine neue Mobilitätskultur. Mobilität ist für uns nicht nur ein Grundbedürfnis, sondern auch Lebensader. Eine zukunftsorientierte Mobilitätskultur müsste breiter aufstellt und vielfältiger sein und auch ökologische Gesichtspunkte umfassen. Der Transportsektor ist für 30 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich und hat sie im Gegensatz zu anderen Sektoren wie Industrie, Landwirtschaft und Gebäude nicht verringert. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer umfassenden Transformation zu einer neuen Mobilitätskultur ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Gleichzeitig wird die Debatte von der Politik missbraucht, um kurzfristig Wählerstimmen zu mobilisieren. In Berlin waren es letztlich die Einpendler aus den Randbezirken, die die Bürgermeisterwahl entschieden haben. 

Zukunft Nahverkehr: Was irgendwie auch wieder kurios ist, weil kaum jemand gerne pendelt. Historisch ist die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten mit dem Versprechen einer besseren Zukunft verbunden. Gilt dieses Versprechen heute noch? 

Hans-Peter Kleebinder: Diese Trennung von Wohnen und Arbeiten fällt uns heute auf die Füße. Wir haben uns komplett abhängig von Mobilität gemacht. Und das ist meistens Automobilität. Um da wieder herauszukommen, brauchen wir jetzt verdammt schnell einen langfristigen Mobilitätsplan mit stabilen Rahmenbedingungen für Deutschland. Österreich macht seit 30 Jahren vor, wie man so einen Masterplan in die Tat umsetzt. Hierzulande beginnt man hingegen gerade erst zu realisieren, dass man die Schiene seit Jahrzehnten zu Gunsten von Straßen und Autos vernachlässigt hat und sogar die Instandhaltung verschlafen hat. Deshalb macht es auch keinen Sinn, aus der ÖV-Blase heraus Auto-Bashing zu betreiben. Der ÖV muss jetzt erst einmal seine Hausaufgaben machen. 

Zukunft Nahverkehr: Immerhin scheint weitestgehend Einigkeit darin zu bestehen, dass wir in der Sackgasse gelandet sind. Genügt das, um dort wieder rauszukommen? 

Hans-Peter Kleebinder: Ich bin ein großer Verfechter von emotionaler Aktivierung, und dazu braucht man Kommunikation. Zum Beispiel einen Dokumentarfilm wie Mobility ist a Human Ride, einen Ideenzug oder eine IAA Mobility, um zu zeigen, welche Lösungen es gibt. Wir müssen die Vorteile von moderner Mobilität, von Digitalisierung und Mikromobilität sichtbar und erlebbar machen. Ich war sehr erstaunt, dass es inzwischen elf Millionen Menschen gibt, die jährlich E-Scooter-Sharing nutzen. Elf Millionen! Aber auf die schaut keiner. 58 Millionen Menschen nutzen ÖPNV. Wir sollten Mobilität nicht nur aufs Auto beziehen, sondern müssen breiter denken und uns als Mobilitätsland auch so aufstellen. 

Zukunft Nahverkehr: Wären wir dazu in der Lage? 

Hans-Peter Kleebinder: Die Unternehmen, Talente und das Knowhow dazu haben wir. SIXT, FlixBus und Wunder Mobility sind deutsche Erfolgsgeschichten, die vor allem international expandieren. Aber diese Unternehmen und viele innovative Startups wie Ottobahn und Dromos sind mit ihren modernen Mobilitätsangeboten außerhalb Deutschlands meist erfolgreicher, weil die mobilitätspolitischen Rahmenbedingungen dort unterstützender sind. Wir könnten es eigentlich. Wir müssen es nur machen! Aber mit unserer innovationsphobische Mobilitätskultur fällt das schwer. 

Zukunft Nahverkehr: Immerhin scheinen Sie es nicht für unmöglich zu halten. Wo sehen Sie Potenzial? 

Hans-Peter Kleebinder: Autonome Mobilität wird der nächste große Durchbruch sein. Sie hat enormes Potenzial, weil sie die Grenzen zwischen öffentlichem Verkehr und motorisiertem Privatverkehr auflöst. Wenn uns autonome Shuttles oder Pods auf Knopfdruck vor unserer Haustüre abholen, wird das ganz viel radikal verändern. Es passiert jetzt schon, in China und den USA sind autonome Fahrzeuge mittlerweile selbstverständlich. Der Robo-Taxi Anbieter Waymo fährt pro Woche mehr als 1 Mio. autonome Meilen ohne Fahrer. In Shenzen werden noch dieses Jahr 20 autonome Busse in Betrieb genommen. Über kurz oder lang wird das auch hier so sein. Die deutsche Automobilindustrie hat die Antriebswende verschlafen und befinden sich aktuell in einer Aufholjagd. Mit der autonomen Mobilität dürfen wir nicht die gleichen Fehler machen, sondern müssen es wieder schaffen, die Mobilität der Zukunft gestalten. So wie einst vor 120 Jahren.