„Eine Riesenchance für uns alle“

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06. September 2024, 16:21 Uhr

Artikel: „Eine Riesenchance für uns alle“

Das 9-Euro-Ticket bewegt nach wie vor die Gemüter. Jüngstes Beispiel ist die vom ifo Institut angestoßene Debatte um seinen Beitrag zur Mobilitätswende.

„Autoverkehr lediglich um vier bis fünf Prozent reduziert, dafür 30 Prozent mehr Verspätungen“, rauschte es Ende August durch den digitalen Blätterwald. Schlechte Presse für Produkte, die es schon längst nicht mehr gibt, ist selten. Aber es kommt vor, und dieses Mal hat es das 9-Euro-Ticket erwischt, das bis zum 31. August 2022 erhältlich war.

Den Stein hatte eine Pressemeldung des ifo Instituts ins Rollen gebracht, die sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsnetzwerks CESifo bezieht. Darin gehen die Autor:innen der Frage nach, „ob das 9-Euro-Ticket erfolgreich darin war, eine Veränderung der Mobilitätsmuster zu bewirken, mit einer Substitution weg vom Autoverkehr hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln.“ Darüber hinaus wollten sie wissen, „ob das 9-Euro-Ticket die Qualität der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur in Form von Zugverspätungen beeinflusst hat.“

Das mögen spannende Fragen sein – allerdings hatte der Bundestag ganz andere Motive, als er am 19. Mai 2022 ohne Gegenstimmen das deutschlandweit gültige 9-Euro-Ticket beschloss. „Mit dem Ticket sollen die Leute einerseits wegen der stark steigenden Kosten für Strom, Lebensmittel, Heizung und Mobilität finanziell direkt entlastet werden. Zudem soll ein Anreiz zum Umstieg auf den ÖPNV und zur Einsparung von Kraftstoffen gesetzt werden“, heißt es in der Dokumentation der Lesung.

Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) betonte angesichts der dreimonatigen Laufzeit vor allem das Innovationspotenzial des 9-Euro-Tickets. Für die Verkehrsverbünde, so Bundesminister Dr. Volker Wissing, sei es eine enorme Chance, neue Kund:innen für ihr Angebot zu begeistern. Länder und Kommunen könnten herausfinden, ob und wie viele Fahrgäste tatsächlich umsteigen; die Menschen im Land ihre Mobilitätsgewohnheiten in Frage stellen und etwas Neues ausprobieren. „Diese drei Monate sind eine Riesenchance für uns alle, einen denkbaren Weg hin zu klimafreundlicher Mobilität tatsächlich praktisch zu testen“, frohlockte Wissing in seiner Rede im Anschluss an den Beschluss.

Verkehrsverbünde, Länder, Kommunen und Bürger:innen haben diese Chance offenbar genutzt. Das zeigen die Ergebnisse der Marktforschung, die der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zusammen mit der Deutschen Bahn und den Marktforschungsinstituten Forsa und RC Research im Auftrag von Bund und Ländern durchgeführt hat. Danach geben 12 Prozent der Bundesbürger:innen an, die 9-Euro-Ticket-Aktion habe sie veranlasst, den ÖPNV auch danach häufiger zu nutzen. Fast 30 Prozent der dadurch gewonnenen Neukunden haben den ÖPNV bis November weiterhin genutzt, was etwa 1,8 Millionen Fahrgästen entspricht. Weitere 1,6 Millionen Fahrgäste kamen aus den Reihen der reaktivierten Kund:innen hinzu. Als häufigster Grund für die intensivere ÖPNV-Nutzung werden hier die Erfahrungen während des Aktionszeitraums genannt, obwohl Busse und Bahnen oft rappelvoll waren und die Quote der verspäteten Züge dem ifo zufolge von 14 auf 18 Prozent stieg.

Rund eine Milliarde Fahrten wurden monatlich mit dem 9-Euro-Ticket unternommen. Gut zehn Prozent davon hätten ohne das Ticket mit dem Auto stattgefunden. Das hat auch dem Klima gut getan: Auf Grundlage des TREMOD-Modells zur Berechnung des Emissionsverbrauchs hat der VDV für den Aktionszeitraum eine CO2-Reduktion von 1,8 Millionen Tonnen ermittelt. „Damit haben drei Monate 9-Euro-Ticket so viel CO2 eingespart wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde“, bilanziert der VDV den Verlagerungseffekt vom Auto auf Bus und Bahn.

Das im Mai 2023 eingeführte Deutschland-Ticket hat diesen Trend verfestigt. Sechzehn Prozent der 11,2 Millionen Abonnent:innen steigen jetzt seltener in ihr Auto. Vielleicht noch beeindruckender ist ein Aspekt, der in der Debatte um das Ticket viel zu oft untergeht: 28 Prozent der Nutzer:innen haben vorher weniger als 49 Euro bezahlt. Die Freiheit, jederzeit einfach so in Bus und Bahn einsteigen zu können, ist offensichtlich auch dann etwas wert, wenn man sie nicht in Anspruch nimmt.