„ÖPNV produziert enormen Mehrwert“

Zum Inhalt springen
20. Juni 2024, 08:00 Uhr

Artikel: „ÖPNV produziert enormen Mehrwert“

Selbst gute Ideen brauchen mitunter zwei Anläufe. Aber das ist nur ein Kapitel der SMILE24-Story. NAH.SH-Geschäftsführer Dr. Arne Beck kennt die komplette Version.

Zukunft Nahverkehr: Herr Beck, SMILE24 ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Projekt. So etwas fällt ja nicht vom Himmel und Sie waren mit dem Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein von Anfang an dabei. Wie kam es dazu?  

Arne Beck: SMILE24 kommt aus einer Krisenzeit, der Corona-Zeit. Damals hatten sich Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger in Schleswig-Holstein digital zusammengeschlossen, um möglichst erfolgreich durch die Krise zu kommen. Dabei haben wir auch überlegt, wie die ÖPNV-Welt nach der Pandemie aussehen wird, wie es um die Finanzierung bestellt sein wird und welchen Nahverkehr sich die Gesellschaft wohl leisten will. Wir haben uns dann den Luxus gegönnt, einmal zu schauen, wie der Nahverkehr im ländlichen Raum aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger wohl aussähe, wenn wir ihn frei nach unseren Wünschen und ohne Restriktionen gestalten dürften. Dabei ist das Mobilitätswende-SH-Papier mit fünf Bausteinen entstanden, die sich heute alle in SMILE24 wiederfinden. 

Zukunft Nahverkehr: Was waren das für Bausteine? 

Arne Beck: An Punkt eins stand für uns das Ziel, mit dem ÖPNV auf dem Land genauso mobil zu sein, wie in der Stadt. Mit einem Grundangebot, das jedem Ort eine stündliche Anbindung garantiert – 24 Stunden täglich, 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr. Zugang, Buchung, Ticketing sollten komplett digital sein, Informationen in Echtzeit bereitgestellt werden und das Angebot 100 Prozent klimaneutral sein. Schließlich leben wir in Schleswig-Holstein in einem Land, das mehr Strom als genug hat, und diesen Wettbewerbsvorteil sollten wir auch nutzen. Zudem sollte das Angebot für die Kunden und Kundinnen vollständig barrierefrei sein. Also nicht nur für mobilitätseingeschränkte Reisende, sondern auch für Menschen mit Kinderwagen oder Reisende mit großen Koffern. Tourismus spielt hierzulande eine bedeutende Rolle.  

Zukunft Nahverkehr: Und das haben Sie dann eins zu eins in den Förderantrag geschrieben und das Bundesministerium für Digitales und Verkehr auf Anhieb überzeugt? 

Arne Beck: Nicht ganz. Beim ersten Förderaufruf für „Modellprojekte zur Stärkung des ÖPNV“ sind wir mit unserer Bewerbung nicht zum Zug gekommen. Wir waren mit einem landesweiten Ansatz ins Rennen gegangen und hatte vorgesehen, die zur Verfügung gestellten Mittel sehr breit einzusetzen. Im zweiten Antrag sind wir genau den gegenteiligen Weg gegangen, haben das Produkt in den Vordergrund gestellt und uns überlegt, in welche Regionen wir das sinnvoll zur Anwendung bringen könnten. Wir haben uns dann für die Schlei-Region entschieden. Mehr ländlicher Raum geht kaum. Gleichzeitig ist die Nachfrage sehr volatil, nicht nur zu den Schulzeiten und den Schulferien, also im Jahresgang, sondern auch und gerade mit Blick auf den Tourismus. In den Saisonzeiten ist das Verkehrsaufkommen so stark, dass es auf Dauer den touristischen Erfolg der Region gefährdet. Ein überzeugendes Nahverkehrsangebot kann hier viel bewirken. 

Zukunft Nahverkehr: Mit SMILE24 bringen Sie ein Modellprojekt auf die Straße, das als Blaupause für andere ländliche Regionen dienen soll, aber schon im Dezember 2025 abgeschlossen sein muss. Das ist sehr ambitioniert.  

Arne Beck: Auf jeden Fall. Es ist ein extrem aufwendiges Projekt. Wir haben das Glück, dass wir bei der NAH.SH eine hochmotiviertes Team mit vielen sehr erfahrenen Kolleginnen und Kollegen haben, die für die Mobilitätswende brennen. Gemeinsam mit den Kreisen Schleswig-Flensburg und Rendsburg-Eckernförde haben wir ein Projektteam aufgesetzt, das Hand in Hand zusammenarbeitet und durch ein externes Projektmanagement unterstützt wird. Zusätzlich freuen wir uns, dass wir mit hochengagierten Projektkooperationspartnern auf Seiten der Verkehrsunternehmen, der digitalen Dienstleister, der Tourismuswirtschaft und der öffentlichen Hand vor Ort zusammenarbeiten dürfen: Alle ziehen an einem Strang. Jetzt haben wir allerbeste Chancen, einen Showcase auf die Straße zu bringen, mit dem wir Mobilitätswende im ländlichen Raum ermöglichen können. Dazu müssen wir die Fahrgäste begeistern und im harten Wettbewerb mit dem motorisierten Individualverkehr überzeugen. Als Branche haben wir alle viele Ideen und Vorstellungen, wie das gehen könnte. Hypothesieren können wir alle sehr gut. Am Ende ist aber wie beim Fußball: Entscheidend ist, was auf dem Platz passiert. 

Zukunft Nahverkehr: Die Platzverhältnisse sind mit dem für ländliche Räume üblichen niedrigen ÖPNV-Anteil am Modal Split eher schwierig.  

Arne Beck: Wenn wir Schleswig, Eckernförde und Kappeln inkludieren, beträgt der ÖPNV-Anteil am Modal Split um die fünf Prozent. Klammern wir die Städte aus, werden es eher ein bis zwei Prozent sein. Dort die Marktanteile hochzutreiben, ist eine echte Herausforderung… 

Zukunft Nahverkehr: … und 36 Millionen Euro sind viel Geld. Solche Fördersummen werden gerne mal in Frage gestellt, kaum genutzte Grundangebote mit hohen Personenkilometerkosten hingegen kommentarlos hingenommen. Läuft da in der Kostendebatte was schief? 

Arne Beck: Ich glaube, da denken die wenigsten drüber nach. Tatsächlich wollen wir mit SMILE24 gerade auch herausfinden, ob es mit einem hochwertigen Angebot gelingt, mehr Fahrgäste in das System zu bekommen und dadurch niedrigere Kosten pro Personenkilometer zu erzielen als mit scheinbar günstigen Notfallangeboten im Sinne der Daseinsvorsorge. Davon abgesehen, ist ÖPNV mehr als eine Transportdienstleistung, weil er enormen gesellschaftlichen Mehrwert produziert. Es ist ein Angebot, das für Menschen im ländlichen Raum Bleibeperspektiven schafft. Für junge Menschen. Für ältere Personen, die vielleicht nicht mehr Auto fahren oder Leute, die keins haben. Für Arbeitskräfte, die bisher ohne eigenes Auto nicht zur Arbeit kamen, oder Azubis, die noch zu jung für einen Führerschein sind. Oder für Arbeitgeber, die nun in weiterem Umkreis Arbeitskräfte gewinnen können. Das alles sind handfeste wirtschaftliche Vorteile. Davon abgesehen begeistert so ein Angebot Touristinnen und Touristen, die eben kein eigenes Auto mehr haben, die aus den Metropolen kommen, dort vielleicht auf ein Auto verzichten können und hier dann auch keines brauchen. Das schafft auch einen Wettbewerbsvorteil. Gemessen an seinem gesellschaftlichen Nutzen ist ein ÖPNV wie wir ihn mit SMILE24 bieten also ein extrem günstiges Angebot.  

Zukunft Nahverkehr: Das Projekt läuft bis Dezember 2025. Das ist nicht viel Zeit, um nachhaltige Veränderungen im Mobilitätsverhalten zu bewirken. Wie gehen Sie vor? 

Arne Beck: Wir evaluieren umfassend. Das ist ein weiterer Baustein im Gesamtprojekt und er ist vom Bundesfördermittelgeber auch so vorgegeben. Zusätzlich führen wir aber ergänzende eigene Evaluationen durch, weil wir eine enorme Fülle an Daten erhalten und das Projekt uns die Chance bietet, sehr tief in Data Science und Data Management einzusteigen. Plattformen, Apps und On-Demand-Buchungssysteme bieten uns die Möglichkeit, die tatsächliche Nachfrage relations- und zeitspezifisch detailliert zu analysieren und dadurch präzise steuern können. Wenn zum Beispiel On-Demand-Verkehre so stark nachgefragt werden, dass sich die Umwandlung in Linien lohnen würde, erkennen wir das sehr schnell. Umgekehrt lassen sich schwach nachgefragte Linienverkehre schnell identifizieren und dann in On-Demand-Angebote umwandeln. In der Konsumgüterindustrie sind solche datengetriebenen Verfahren bei betrieblichen Entscheidungen längst Standard. Im ÖPNV fangen wir gerade erst damit an, obwohl die bereitgestellte öffentliche Mobilität ihrem Wesen nach auch ein industrielles Massenprodukt ist.