„Wir haben nicht laut genug gesagt: Das geht so nicht!“

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14. Oktober 2024, 10:56 Uhr

Artikel: „Wir haben nicht laut genug gesagt: Das geht so nicht!“

Jan Görnemann ist Ingenieur und seit 1. Juni Geschäftsführer des Bundesverbands SchienenNahverkehr (BSN). Sein Fokus: die Sanierung der Schieneninfrastruktur.

Zukunft Nahverkehr: Herr Görnemann, sie haben Eisenbahnunternehmen sowie kommunale Verkehrsbetriebe geleitet und sind nun Geschäftsführer des Aufgabenträgerverbands BSN, kennen also viele Perspektiven. Wie wirkt sich das auf ihre Arbeit auf?   

Jan Görnemann: Als besondere Perspektive, die ich einbringe, sehe ich vor allem den Eisenbahningenieur, der sein Berufsleben lang die technische Seite begleitet hat und die Herausforderungen dort kennt – die Chancen, aber auch die Themen, die liegengeblieben sind. Angesichts der Herausforderungen der Zeit hat der BSN keinen Juristen, Geografen, Stadtplaner oder Volkswirtschaftler gesucht. Der schlechte Zustand der Infrastruktur bewegt die Aufgabenträger. Die Bundesschienenwege sind deutlich vernachlässigt worden, sie sind unterfinanziert. Wir haben 16 ÖPNV-Gesetze in den Ländern, wir haben eine bundesweite Situation, die sehr mit Wechsel und Wandel, mit Change im wahrsten Sinne des Wortes verbunden ist. Die finanzielle Situation im Bund, in den Ländern und den Kommunen ist hoch angespannt. Gleichzeitig haben wir weiterhin den Anspruch, gestalterisch tätig zu sein. Da gilt es, einen Weg zu finden – mit dem Ziel und Schwerpunkt, dass das Eisenbahnsystem auch als riesiger ingenieurstechnischer Zusammenhang gesehen werden muss. Ein Aspekt, der in den letzten Jahren zu kurz gekommen ist und auf den ich den Fokus legen werde.  

Zukunft Nahverkehr: Im Mai hat der Aufgabenträgerverband sein 25-jähriges Bestehen gefeiert, ein positives Fazit seiner Arbeit gezogen, aber auch einen eher düsteren Ausblick gegeben. Daseinsvorsorge zu leisten sei unter den aktuell prekären Bedingungen kaum noch möglich, der Balanceakt zwischen Anforderungen und finanzieller Ausstattung werde immer schwieriger. Ist die gegenwärtige Situation eine Durststrecke auf dem Weg der Verkehrswende oder bedeutet sie den Abschied von der Verkehrswende?  

Jan Görnemann: Es gibt 16 Koalitionsverträge in Deutschland, einen im Bund, 15 in den Ländern. In keinem ist der Begriff der Verkehrswende definiert oder festgeschrieben. Ich halte ihn ehrlich gesagt auch für schwierig. Sieht man vom Sonderfaktor der Pandemie ab, dann hat die Mobilität ungeheuer zugenommen. Das ist auch ein Ausdruck von Wohlstand: Die Menschen und auch die Gesellschaft definieren sich über die Mobilität. Wir sehen Reiseweiten von 300 oder 500 Kilometer an einem Wochenende, die Luftfahrtindustrie vermeldet Rekorde, die Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr steigen, die Anzahl an zugelassenen Pkw in Deutschland liegt jetzt bei über 49 Millionen. Schon vor diesem Hintergrund ist es schwierig, von einer Verkehrswende zu sprechen, die sich dann nur auf einzelne Akteure oder Verkehrsmittel bezieht. Was es aber gibt, ist eine gesellschaftliche Verpflichtung, weil sich Deutschland auf die Pariser Klimaschutzziele verpflichtet hat. Die erreicht man entweder durch Verzicht oder durch technische Innovationen. Ich halte beide Wege für richtig. Die stehen aktuell aber erst einmal im Raum, werden nicht wirklich beschritten und wir erleben unterschiedliche Strömungen, wie man damit umgehen will.  

Zukunft Nahverkehr: Und wie sollte man damit umgehen? 

Jan Görnemann: In der Schweiz fahren Doppelstockzüge mit 16 Wagen. Eine riesige Kapazität. In Deutschland haben Doppelstockzüge selten mehr als vier oder fünf Wagen. In Paris widmet man Fahrspuren auf Hauptstraßen für Fußgänger und Radfahrer um. Das sind zwei Beispiele. Wichtig ist nach meiner Ansicht auch Aufklärungsarbeit, ebenfalls unabdingbar sind regulative Flankierungen. In einer Gesellschaft, in der günstige Angebote auf ein Flatrate-Verhalten einzahlen, in der die Menschen vier Paar Schuhe online bestellen und sie völlig kostenlos wieder zurückschicken, sind der gesellschaftliche Wert und die Wertschätzung von Beförderung, Mobilität und Logistik längst nicht da, wo sie hingehören. Der Ressourcenverbrauch und die Zahlungsbereitschaft stehen nicht mehr im Einklang, das provoziert finanzielle Schieflagen. Die gesellschaftliche Debatte zu diesen Themen ist noch gar nicht richtig angestoßen. In spätestens einem Jahr stehen Bundestagswahlen an und ich bin ehrlich gespannt auf die Positionierungen der Parteien. Eines, denke ich, ist aber offensichtlich geworden: Die Menschen, wenn sie Angebote und Alternativen bekommen und diese als Mehrwert für sich sehen, sind sehr wohl bereit, sich auf neue Horizonte einzulassen. 

Zukunft Nahverkehr: Das System Schiene ist dabei nach wie vor das Verkehrsmittel der Zukunft?  

Jan Görnemann: Die Schiene ist deswegen das Verkehrsmittel der Zukunft, weil wir in den Städten, diesen eng verdichteten urbanen Räumen, immer mehr Menschen im gebündelten Transport effizient von A nach B bringen müssen. Das können S-Bahnen leisten, das kann auch die U-Bahn sein. Wo es um kleinteilige Mobilität mit Fahrrädern, Pedelecs und E-Scootern geht, muss der Verkehrsraum dies auch vertragen. Was uns definitiv nicht weiterbringt, ist das Auto, auch nicht, wenn es elektrisch betrieben wird. Das zögert das Dilemma des Flächendrucks in den urbanen Räumen nur hinaus.  

Zukunft Nahverkehr: Was hätten die Aufgabenträger und die Branche anders oder besser machen können, damit die Situation, wie sie sich jetzt im SPNV darstellt, gar nicht erst eintritt?  

Jan Görnemann: Eine „Hätte-Betrachtung“ ist immer schwierig. Aber sie kann immerhin dazu beitragen, dass sich Ähnliches nicht wiederholt. Ich denke, die Länder und die Aufgabenträger hätten noch unmissverständlicher deutlich machen müssen, dass der Weg, den die Bundeschienenwegeinfrastruktur genommen hat, eine Sackgasse ist, ins Desaster führt. Der SPNV macht den größten Teil des Eisenbahnbetriebs aus. Wenn Sie vor zehn Jahren mit Verantwortlichen im SPNV gesprochen haben, dann war schon damals mehr als offensichtlich, dass das nicht gutgehen kann. Wir haben das kritisch festgestellt, wir haben das konstatiert, wir haben dazu Papiere verfasst, aber wir haben uns dem nicht laut genug entgegengestellt und gesagt: Halt! Stopp! Das geht so nicht! Heute sehen wir Verkehrswege, die in ihrer Kapazität zunächst eingeschränkt und dann über Nacht gar nicht mehr zu benutzen sind. Es geht um Strecken, die gewissermaßen neu aufgebaut werden müssen, weil Instandsetzen nicht mehr reicht. Wir haben es mit Brücken zu tun, die nicht mehr befahren werden können, was neben der Schiene übrigens genauso die Straße betrifft. Wir haben sicherungstechnisch anfällige Stellwerke, die es in diesem Ausmaß sonst nirgends in Europa gibt und die jetzt ausgetauscht werden müssen, auch um den Preis, dass dabei die Digitalisierung erst einmal hintenangestellt wird. Die Kolleginnen und Kollegen im Verkehrsministerium und bei DB InfraGO, die jetzt das Ruder herumreißen müssen, sind nicht zu beneiden. Noch unbeantwortet steht allerdings die Frage im Raum, wie dafür Sorge getragen wird, dass so etwas nicht wieder passiert. Verkehrsachsen wie zum Beispiel Hamburg – Berlin dürfen nicht noch einmal über Monate für die Sanierung gesperrt werden, in den nächsten 100 Jahren nicht! Dafür braucht es strukturell wie finanziell eine völlig andere Prioritätensetzung.  

Zukunft Nahverkehr: Ist der Zustand der Infrastruktur die wesentliche Priorität für den BSN bei den vielen Themen, die in der Branche anliegen? Um nur einige Punkte zu nennen, sind da ja auch noch die Entwicklung der Regionalisierungsmittel, die angekündigte Trassenpreiserhöhung im SPNV, die langfristige Perspektive des Deutschland-Tickets, seiner Preisgestaltung und Finanzierung.  

Jan Görnemann: Ohne Infrastruktur ist alles nichts. Ohne Infrastruktur fährt kein Zug und wenn kein Zug fährt, braucht man sich über Ticketangebote oder den regulatorischen Rahmen auch keine Gedanken mehr zu machen. Wir sollten mit ein wenig Demut zu den Nachbarländern schauen, die ihre Hausaufgaben vorausschauender erledigen. Wie ich auf der InnoTrans in Berlin erleben konnte, schüttelt man bei unseren Nachbarbahnen den Kopf und fragt den großen zentralen Partner in der Mitte Europas: Was macht ihr da eigentlich? Wie kann so etwas sein? Das aufzuarbeiten und nachzuholen, was versäumt wurde, wird eine große gesellschaftliche Herausforderung für die nächsten rund zehn Jahre sein. Aber ja, auch viele andere Themen sind wichtig. Bei den Regionalisierungsmitteln setze ich weiter darauf, dass die Politik sich ihrer Verantwortung bewusst ist und mit diesem Thema nicht spielt. Es gab auch in früheren Jahren Auseinandersetzungen über die Regionalisierungsmittel, aber auch da hat man sich geeinigt. Für die derzeitigen Trassenpreise im SPNV gibt es eine gesetzliche Grundlage. Dass die Trassenpreise für den SPNV gedeckelt sind, hat seinen Grund darin, dass der SPNV Daseinsvorsorge ist. Um die heutige Regelung zu ändern, haben sich einige auf den Weg gemacht und die anderen nicht mitgenommen. Ich appelliere, wieder den Weg des Miteinanders zu suchen und gemeinsam einen vernünftigen Ausgleich zu finden, auch wenn das anstrengend sein mag. Dem gerichtlichen Entscheid über die Trassenpreise im SPNV sehe ich entspannt entgegen. Wenn eine Änderung notwendig sein sollte, fällt die ja auch nicht vom Himmel, sondern muss ausgehandelt werden und wird nur mit Zustimmung des Bundesrats funktionieren.  

Zukunft Nahverkehr: Wie hält man eine positive Ausstrahlung und zukunftsgerichtete Dynamik der Branche aufrecht? Diese Dynamik wird ja zum Beispiel dafür gebraucht, um Beschäftigte zu gewinnen. Eine Branche, die um sich selbst kreist und ihr Leid beklagt, ist nicht sehr attraktiv.  

Jan Görnemann: Die Grundlage für eine echte Aufarbeitung ist zuerst die Ehrlichkeit mit sich selbst. Das kann man als brancheninterne Diskussion wahrnehmen. Aber ich finde das sehr bereichernd und sehe sehr viel kritische Selbsteinschätzung. Bei anderen Partnern würde ich mir mehr davon wünschen. Aber am Ende muss man sagen: Es hilft ja nichts. Es ist die Aufgabe von Führungskräften, Management und Politik, den Blick nach vorne zu richten, Wege aufzuzeigen und positiv zu beschreiben, was man erreichen will und anzubieten hat, wo die Chancen liegen. Und da brauchen wir uns auch nicht verstecken im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen. Unser Mehrwert im Wettbewerb um Arbeitskräfte ist die gesellschaftliche Aufgabe, die wir erfüllen, und die innere Befriedigung, die damit einhergeht. Und das merken wir bei vielen jungen Leuten, die zu uns kommen, die das für sich entdecken und mit Freude und Verve dabei sind. Das erkennen wir auch an der hohen Verweildauer von Menschen, die aus anderen Branchen zu uns wechseln und das für ihre Entscheidung als ganz wichtigen Faktor beschreiben.