Artikel: „Wir müssen mehr Trial and Error wagen“
Im MCube-Cluster erarbeiten mehr als 50 Organisationen ganzheitliche Mobilitätsinnovationen für urbane Räume. Ihr Ziel: global skalierbare Lösungen mit Modellcharakter.
MCube hat sich auf die Fahnen geschrieben, München zur Vorreiterin für nachhaltige und transformative Mobilitätsinnovationen zu machen. Im Interview mit Zukunft Nahverkehr verraten MCube-Geschäftsführer Oliver May-Beckmann und Dr. Julia Kinigadner, Leiterin der Forschungsgruppe „Integrated Mobility Concepts“ an der Technischen Universität München, wie sie dabei vorgehen.
Zukunft Nahverkehr: MCube steht für Münchner Cluster für die Zukunft der Mobilität in Metropolregionen. Der griechische Philosoph Perikles riet dazu, auf die Zukunft vorbereitet zu sein. Der französische Autor Antoine de Saint-Exupery empfahl, sie lieber möglich zu machen als voraussehen zu wollen. Welche Variante gefällt Ihnen besser?
Dr. Julia Kinigadner: Es gibt Trends, die man kaum beeinflussen kann. Andererseits wollen wir unsere Welt auch gestalten. Dass wir uns dabei ein Stück weit bestehenden Rahmenbedingungen anpassen müssen, versteht sich von selbst. Das spricht aber überhaupt nicht dagegen, dass wir uns überlegen, wo wir eigentlich hinwollen. Also ein bisschen was von beidem.
Oliver May-Beckmann: Mit dem Narrativ, Bestehendes besser machen zu wollen, indem wir mit bestehenden Planungstools und Szenarien arbeiten, kommen wir nicht weiter. Dafür sind die Herausforderungen viel zu komplex. Natürlich müssen wir die Trends verstehen und langfristige Ziele definieren. Aber weil wir nicht genau wissen, wie sich die Korridore entwickeln, in denen wir uns die nächsten Jahre bewegen, sind andere Methoden gefragt. Wir müssen mehr Trial and Error wagen, Design Thinking, Prototypen ausprobieren und dann gucken, wo es weitergeht. Man kann heute schlicht nicht sagen, was wir in zehn Jahren tatsächlich an Innovationen benötigen. Also braucht es ein Verständnis von beidem.
Zukunft Nahverkehr: Sprunginnovationen spielen in den von MCube entwickelten Konzepten eine prominente Rolle. Welche Bedeutung haben sie in diesem Innovationsprozess und wäre das auch etwas, was den ÖPNV voranbringen könnte?
Oliver May-Beckmann: Hinter dem Begriff Sprunginnovation steht der Gedanke, nicht alles Schritt für Schritt nacheinander zu machen, sondern Erkenntnisse zu sammeln, vorzubereiten, in uns selbst reifen zu lassen und dann einen weiten Sprung nach vorne zu machen. Was den ÖPNV an sich betrifft, wäre das aus meiner Sicht nicht nötig. Um Infrastrukturmaßnahmen zu ergreifen, bessere Angebote zu schaffen, Gelder zu akquirieren oder Prozesse zu beschleunigen braucht man keine Sprunginnovation, und den ÖPNV attraktiver und komfortabler zu machen, ist keine Rocket Science. Ich glaube aber, dass uns Sprunginnovation helfen kann, wenn es um die Veränderung unseres Mobilitätsverhaltens geht. Denn das hängt nicht nur von Infrastruktur und Angeboten ab. Sondern auch davon, ob es Anreize gibt, die Menschen dazu bringen, etwas Neues zu probieren.
Zukunft Nahverkehr: Können Sie das konkretisieren?
Oliver May-Beckmann: Wir saßen letzte Woche in einem recht hochrangigen Gremium zusammen, um darüber zu sprechen, was man von anderen Ländern lernen kann. Der Vorstandsvorsitzende eines großen Industrieunternehmen erzählte, er würde niemals ein Auto, sondern den ÖPNV nutzen, wenn er nach Stockholm oder Kopenhagen käme. Da kam sofort die Frage auf, was zuerst da war. Der gute ÖPNV oder Anreize, ihn auch zu nutzen? Er sagte, beides gleichzeitig – was bedeutet: Nicht darauf warten, bis das Angebot so gut ist, dass die Leute mal in fünf, zehn oder 15 Jahren anfangen, mehr ÖPNV zu nutzen, sondern gleichzeitig eine Veränderung des Mobilitätsverhaltens anzustreben. Das wiederum ist die größte Kunst. Denn wir sind alle Gewohnheitstiere.
Zukunft Nahverkehr: Das Potenzial, das in Verhaltensänderungen schlummert, lässt sich am aktuellen E-Roller-Hype ablesen. Die Menschen begeistern sich für irgendwas und schon verändern sie ihr Verhalten. Das macht Mut, oder?
Dr. Julia Kinigadner: Ich glaube, das ist genau der Schlüssel. Denn diese ganze Verkehrswende ist auch deshalb so konfliktbehaftet, weil so oft moralisiert wird, was bei den Kritisierten wiederum eine Abwehrhaltung hervorruft. Deshalb glaube ich, dass der Ansatz, die Menschen für Alternativen zu begeistern, der einzige Weg ist, der zum Ziel führt.
Zukunft Nahverkehr: MCube arbeitet an transformativen Mobilitätsinnovationen. Mit Blick auf den Ausbau von ÖPNV-Projekten bringen Sie das auf die Formel „design and provide“ statt „predict and provide“. Ist das Teil dieser Dimension, über die wir gerade sprechen?
Dr. Julia Kinigadner: Auf jeden Fall. Predict and Provide bedeutet letztlich, aktuelle Trends in die Zukunft zu projizieren und daraus Schlussfolgerungen für die Planung zu ziehen, beispielsweise in welchem Umfang Straßen ausgebaut werden müssen. Bei Predict and Design steht hingegen im Vordergrund, was wir haben wollen und welche Ziele wir verfolgen – gerade auch auf übergeordneter Ebene, also beispielsweise bei Flächenverbrauch oder CO2-Emissionen. Es ist also ein Umdenken in der Art und Weise, wie man plant oder Maßnahmen bewertet. Der Ansatz spielt auch in unserem BENEVIT-Projekt eine Rolle, in dem es um innovative Bewertungsmethoden für nachhaltige Verkehrsinvestitionen geht. Anders als beim gesamtwirtschaftlichen Bewertungsverfahren, das zum Beispiel auch bei Infrastrukturvorhaben für den ÖPNV angewendet, fallen hier eben auch Aspekte wie Auswirkungen auf Siedlungsstrukturen, Wohnungsmarkt oder Produktivität ins Gewicht …
Zukunft Nahverkehr: … und deren Wert können Sie jetzt mit einem Vollkostenrechner ermitteln, den MCube entwickelt hat, richtig?
Dr. Julia Kinigadner: Ganz so weit sind wir mit diesem Projekt leider noch nicht. Kostenkategorien wie Flächenverbrauch, Bodenversiegelung oder negative gesundheitliche Folgen monetär zu beziffern, ist unglaublich schwierig. Es geht uns deshalb erstmal darum, Transparenz zu generieren und Entscheidungsträger:innen aufzuzeigen, welche realen Kosten unter aktuellen Rahmenbedingungen mit einem Infrastrukturprojekt oder Mobilitätsverhalten verbunden sind. Die Aha-Momente, die wir damit erzeugen, bringen aber neue Perspektiven in Entscheidungsfindungen und können ein Umdenken bewirken. Was können wir als Gesellschaft einsparen und wie können wir den dadurch gewonnen Spielraum sinnvoll nutzen? Auf lange Sicht könnte uns das Tool also helfen, bessere und nachhaltigere Entscheidungen zu treffen.
Oliver May-Beckmann: Da kommen wir wieder auf die Sprunginnovation zurück. Denn wir doktern hier nicht an kleinen Stellschrauben herum, sondern versuchen schon, die größeren Hebel zu greifen und schauen, wo man damit hin kommt.
Zukunft Nahverkehr: Ließe sich dieser Ansatz auch auf den ÖPNV anwenden? Das Deutschland-Ticket hat viel in Bewegung gebracht, gleichzeitig bleibt das systemische Beharrungsvermögen groß.
Dr. Julia Kinigadner: Je komplexer etwas ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man es noch komplexer macht, wenn man versucht, es weiterzuentwickeln. Vielleicht müsste man wirklich einmal tabula rasa machen und sich ganz grundsätzlich überlegen, welche Finanzierungsinstrumente wir brauchen, was wir damit finanzieren und wie wir das Ganze dann ausgestalten wollen.