KIRA kommt mit „Level 4“

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08. Juli 2024, 16:05 Uhr

Artikel: KIRA kommt mit „Level 4“

Die Projektleiter Thorsten Möginger und Thomas Drewes sind sich einig: Autonome On-Demand-Verkehre werden den ÖPNV auf der Straße revolutionieren.

„KI-basierter Regelbetrieb autonomer On-Demand-Verkehre“ (KIRA) heißt das Pionierprojekt, das der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) und DB Regio Straße als federführende Partner in Darmstadt und im Kreis Offenbach auf die Straße bringen. Am 25. Juni 2024 bewegte sich das erste Fahrzeug der Automatisierungsstufe „Level 4“ fahrerlos im Straßenverkehr. Fünf weitere Shuttles folgen. KIRA wird vom Bundesverkehrsministerium mit rund 2,2 Millionen Euro sowie vom Land Hessen finanziell unterstützt. Projektleiter aufseiten des RMV ist Thorsten Möginger (Rhein-Main-Verkehrsverbund Servicegesellschaft mbh). Sein Pendant bei DB Regio Straße ist Thomas Drewes, Leiter Autonomes Fahren.   

Zukunft Nahverkehr: Der erste Pilotbetrieb eines autonomen ÖPNV im Level 4 in Deutschland hat begonnen. Ein Tag für die Geschichtsbücher? 

Thorsten Möginger: Absolut. Wir haben einen Meilenstein nicht nur für unser Projekt erreicht, sondern für den ÖPNV in Deutschland. Das Thema autonomes Fahren beschäftigt uns in der Branche schon seit Jahren. Mit einigen Projekten, in denen automatisierte Shuttle eingesetzt wurden, sind wir die ersten Schritte gegangen und haben wichtige Erkenntnisse sammeln können. Jetzt ist es endlich soweit, dass wir den Schritt von automatisierten Shuttles zu ersten Level 4-fähigen Fahrzeugen gehen und sie in Betrieb nehmen. Die Technologie bietet Potential, die Mobilität grundlegend zu verändern, 

Thomas Drewes: Unser Projekt erprobt, ob die Technologie reif ist für den Regelbetrieb. Das muss sich jetzt zeigen und deshalb bin ich mit Blick auf die Geschichtsbücher noch etwas zurückhaltend. Der Weg zum autonomen Fahren im ÖPNV ist ein Marathon. In den bisherigen Projekten mit niedrigeren Automatisierungsstufen sind dazu Kompetenzen aufgebaut, Erfahrungen gesammelt worden, und wir haben die Technologie den Menschen nähergebracht. Jetzt machen wir einen nächsten und ganz wichtigen Schritt für die Mobilitätswende. Aber es müssen noch weitere folgen, bis autonomes Fahren im ÖPNV etabliert ist.  

Zukunft Nahverkehr: Beim autonomen Fahren hat Level 4 für den ÖPNV besondere Bedeutung. Diese Stufe gilt als Gamechanger. Warum? 

Thomas Drewes: Level 4 erlaubt es, autonome Fahrzeuge in definierten Gebieten unbegleitet, aber fernüberwacht einzusetzen. Das ist praktisch nur für den ÖPNV relevant, weil wir ja immer in definierten Gebieten fahren. Für den Individualverkehr spielt Level 4 keine Rolle. Da ist Level 5, mit dem alle Beschränkungen entfallen, das noch ziemlich weit entfernte Ziel. Im ÖPNV haben wir dagegen schon mit Level 4 alles, was wir für den autonomen Verkehr brauchen. Ein Gamechanger ist das deshalb, weil durch den fahrerlosen Betrieb die Effizienz steigt. Weil wir trotz Fahrermangel das Angebot ausbauen und attraktiver machen können. 

Zukunft Nahverkehr: Mit Level 4 hat der ÖPNV gegenüber dem Individualverkehr also tatsächlich die Nase vorn?  

Thorsten Möginger: Das ist richtig und diese Chance müssen wir nutzen. Mit fahrerlosen On-Demand-Verkehren können wir ein ganz neues Mobilitätsangebot im ÖPNV schaffen. Wir können immer mehr Menschen, die sonst ins Auto steigen würden, dort abholen, wo sie sind. Dass man in unserer Zukunftsvision irgendwann niemand mehr auf das eigene Auto angewiesen ist, macht für mich den Gamechanger-Moment aus. In San Francisco zeigt die Firma Waymo gerade, wohin die Reise geht und wie weit die Technologie ist. Dort sind die autonomen Shuttles inzwischen sogar für alle Fahrgäste nutzbar. 

Zukunft Nahverkehr: Es hat gedauert, bis KIRA wirklich starten konnte. Wo lagen die Herausforderungen?  

Thorsten Möginger: Eine wesentliche Herausforderung war das Genehmigungsverfahren. Für das autonome Fahren hat der Gesetzgeber einen eigenen Rechtsrahmen geschaffen. KIRA ist die erste Umsetzung. Dafür mussten neue Prozesse durchlaufen und gesetzliche Vorgaben in die Praxis übersetzt werden. Das war für alle Neuland.  

Thomas Drewes: Das Projekt hatte auch sonst einen enormen Vorlauf. Wir haben im April 2021 Mobileye als Technologiepartner ins Boot geholt, mussten Finanzierung und Förderung mit verschiedenen Geldgebern auf die Beine stellen, brauchten rechtssichere Vertragskonstruktionen mit allen Beteiligten – und zwar zu einem Produkt, das in dieser Weise völlig neu ist. Nicht zu unterschätzen sind die lokalen Beteiligungs- und Entscheidungsprozesse. Bei einem solchen Pionierprojekt gibt es in Aufsichtsräten, Ausschüssen und Gremien eine Menge Informationsbedarf, den man befriedigen muss.  

Zukunft Nahverkehr: Welches Potenzial haben fahrerlose Angebote für die Entwicklung des ÖPNV auf der Straße? Auf Fahrermangel und Kostenvorteile haben Sie schon hingewiesen.  

Thorsten Möginger: Tatsächlich ist das ein ganzer Strauß. Da gehört die Verkehrssicherheit dazu, ebenso die Umweltwirkung, also die Tatsache, dass die Shuttles elektrisch und damit lokal emissionsfrei unterwegs sind. Aber letztlich steht im Mittelpunkt, dass wir die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen abdecken. Mit fahrerlosen On-Demand-Verkehren können wir in großem Maßstab Mobilität und Teilhabe auch ohne Auto möglich machen. Wenn wir an ländliche und suburbane Räume sowie an die älter werdende Bevölkerung denken, ist das eine ganz wichtige gesellschaftliche Dimension.  

Thomas Drewes: Autonomer Verkehr bietet die Chance, diesen Herausforderungen wirklich zu begegnen. Ohne autonome Verkehre werden uns dafür die Fahrer und auch das Geld fehlen. Mit einem Ausbau des Angebots durch autonome Fahrzeuge tut sich die gesellschaftliche Perspektive auf, mit deutlich weniger privaten Autos auszukommen und mehr ÖPNV-Nutzung zu erreichen. Das spart für jeden Einzelnen Kosten, gibt dem ÖPNV einen Attraktivitätsschub, schont Ressourcen sowie Klima und definiert Mobilität am Ende wirklich neu.  

Zukunft Nahverkehr: Sich einem fahrerlosen Shuttle oder Bus anzuvertrauen, ist auch für die Fahrgäste eine neue Dimension. Erwarten Sie Akzeptanzprobleme?  

Thomas Drewes: Nein. Aufregend ist das nur beim ersten Mal bevor man einsteigt. Wenn das Shuttle fährt, fühlt es sich total normal an – so, als ob jemand am Steuer sitzt. Eigenes Erleben ist hier der Schlüssel, daher ist es wichtig, den Menschen mit solchen Pilotverkehren dies frühzeitig zu ermöglichen.  

Thorsten Möginger: Neben der Erprobung der Technologie und der Prozesse ist das Schaffen von Akzeptanz, im besten Fall Begeisterung, eine der zentralen Aufgaben des Projekts. Wir müssen informieren und aufzeigen, wie die Technik funktioniert und vor allem, wie sicher sie ist. 

Zukunft Nahverkehr: Mit KIRA sind der RMV und DB Regio Straße Frontrunner bei Verkehren im Level 4. Wird die ÖPNV-Branche davon ebenfalls profitieren?  

Thomas Drewes: Das Projekt ist genau so angelegt. Wir wollen unsere Vorreiterrolle nutzen, um unsere Erkenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben. Dazu ist der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen an Bord und wird gemeinsam mit den anderen Projektpartnern einen Leitfaden erstellen, damit wir branchenweit möglichst schnell in einen Hochlauf kommen.  

Zukunft Nahverkehr: Blicken wir in die Glaskugel: Wo stehen wir in zehn Jahren?  

Thomas Drewes: Glaskugeln sind bekanntlich eher unzuverlässig. Was ich aber hoffe, ist, dass bis dahin die Kosten bei autonomen geringer sind als bei konventionellen Verkehren und so die Skalierung erfolgreich läuft. Heute sind autonome Verkehre noch deutlich teurer. Das kann auch nicht anders sein, da die Technologie neu ist und die Prozesse sich erst einspielen müssen.  

Thorsten Möginger: Ich hoffe, dass wir schneller sind und keine zehn Jahre brauchen. Und wenn ich in diese Zukunft schaue, dann Habe ich die Vision, dass meine heute eineinhalb Jahre alte Tochter keinen Führerschein mehr machen wird, weil sie flexible autonome On-Demand-Verkehre überall nutzen kann.  

Am 12. Juli bietet DB Regio Straße einen „Impuls-Nugget“ zum Thema „Autonomer On-Demand-Verkehr“ an. Die virtuelle Session mit Thorsten Möginger und Thomas Drewes  dauert 30 Minuten. Weitere Informationen und den Link zur Anmeldung finden Sie hier.