Prämie für Abschied vom Auto

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21. Juni 2024, 10:44 Uhr

Artikel: Prämie für Abschied vom Auto

Marburg will Menschen für eine zukunftsfähige Mobilität gewinnen und setzt auf positive Anreize: Wer sich vom eigenen Pkw trennt, wird mit 1.250 Euro belohnt.

Es ist ein verlockendes Angebot, das die Stadt Marburg an der Lahn Mitte Juni mit dem Segen des Stadtparlaments auf den Weg gebracht hat. Wenn das eigene Auto ohnehin die meiste Zeit herumsteht, warum sich nicht von ihm trennen? Die Stadt belohnt das ein Jahr lang mit Prämien im Wert von 1.250 Euro. Der Prämienbaukasten, der in bestimmten Grenzen individuell zusammengestellt werden kann, beinhaltet Guthaben für Carsharing und ÖPNV, aber auch für Marburger Geschäfte, Gastronomiebetriebe und Dienstleister. In der Pilotphase können zunächst 50 trennungswillige Autofahrende davon profitieren. 

„Das Ziel der städtischen Mobilitätspolitik ist es, Menschen durch Angebote für eine zukunftsfähige Mobilität zu gewinnen“, sagt Oberbürgermeister Thomas Spies, der das Konzept beim Pressetermin vor dem historischen Rathaus vorstellte (im Bild 1. v. r.). Mit der Prämie will die mittelhessische Universitätsstadt dazu animieren, Mobilität ohne eigenes Auto einfach zu testen. Gewinnen soll dadurch letztlich die ganze Stadt mit ihren rund 78.000 Einwohner:innen, von denen etwa 45.000 in der malerischen Kernstadt leben. Vor allem der von Autos blockierte Raum ist dem Oberbürgermeister ein Dorn im Auge. Fahrzeuge würden „Tage, Wochen, manchmal Monate nicht bewegt“, so Spieß. Stadtrat Michael Kopatz (im Bild 1. v. l.)  rechnet vor, dass auf jedes abgestellte Auto zwölf bis fünfzehn Quadratmeter privater oder öffentlicher Raum entfallen. Bei Letzterem komme das die Allgemeinheit teuer zu stehen: Für Marburg beziffert der Dezernent für Klimastrukturwandel, Bauen, Stadtplanung und Mobilität allein die Grundstückskosten pro Auto auf Parkplätzen und am Straßenrand auf 2.400 Euro und die jährliche Unterhaltung auf 360 Euro. Ein weiterer Faktor ist für Kopatz der Flächenfraß, der auch die Außenbezirke und Stadtteile betrifft: Für jedes Fahrzeug müssten dauerhaft zwei bis drei Parkplätze vorgehalten werden, weil diese Stellflächen beim Neubau von Wohnhäusern, Bürogebäuden, Schulen oder Supermärkten seit Jahrzehnten verpflichtend bereitzustellen seien. 

Stolz ist man in Marburg auf das laut Kopatz bundesweit einmalige Prämienmodell. Zum einen werde damit auch die heimische Wirtschaft gestärkt, zum anderen fordere es keinen Autoverzicht. Wer weiter Auto fahren wolle, könne das tun. Wer das eigene Auto abschaffe und stattdessen auf das wachsende Carsharing-Angebot setze, müsse dafür zumindest in der Kernstadt nicht einmal seine Routinen ändern. „Wir haben einen völlig neuen Ansatz in der Verkehrspolitik entwickelt“, ist Kopatz überzeugt.   

Als ein Ausrufezeichen darf das Prämienmodell auch vor dem Hintergrund des kurz zuvor gescheiterten Bürgerentscheids zur Halbierung des Autoverkehrs in Marburg verstanden werden. 51,8 Prozent der Bürger:innen hatten am 9. Juni 2024 gegen diese Zielvorgabe des Marburger Mobilitätskonzepts „MoVe 35“ gestimmt. Vor allem in den entfernt liegenden Stadtteilen war die Ablehnung groß.  

Marburg hatte das Konzept MoVe 35 vor fünf Jahren auf den Weg gebracht, um die Verkehrsprobleme der historischen Fachwerkstadt im oberen Lahntal zu lösen. Damit verbunden war eine endgültige Absage an zuvor diskutierten Großprojekten wie Seilbahn, Straßenbahn oder Tunnel. MoVe 35 versteht sich als Prozess kleinschrittiger Maßnahmen mit breiter Bürgerbeteiligung. Dabei soll es nach dem gescheiterten Bürgerentscheid auch bleiben. Welcher Zielwert an die Stelle der Halbierung des Autoverkehrs treten soll, muss nun das Stadtparlament entscheiden. Zu den positiven Aspekten des Bürgerentscheids zählt Oberbürgermeister Spies das breite demokratische Engagement und die intensive verkehrspolitische Debatte im Vorfeld. An die Marburger:innen appellierte das Stadtoberhaupt: „Ich hoffe sehr, dass Sie sich alle weiter einbringen in die Gestaltung der Stadt, egal, wie Sie sich entschieden haben. Und dass wir alle den Elan des Bürgerentscheids aus den vergangenen Wochen mitnehmen können in die Arbeit, die vor uns liegt."