Wien sattelt um

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03. September 2024, 13:32 Uhr

Artikel: Wien sattelt um

Wien drückt beim Ausbau der Radwege aufs Tempo. Dass die Radoffensive vergleichsweise leise über die Bühne geht, liegt auch am Kommunikationskonzept.

Typisch für den Wiener Schmäh klingt „Schleich di“ zwar nicht wirklich böse, ist aber durchaus so gemeint: „Troll Dich, Du Wicht“ gilt noch als eher wohlwollende Übersetzung, weshalb die Aufforderung im täglichen Miteinander eher selten vorkommt. Trotzdem hat sich der Motorisierte Individualverkehr (MIV) langsam, aber sicher aus dem Verkehrsgeschehen hinausgeschlichen: Seit 1993 ist der PKW-Anteil am Modal Split um 35 Prozent gesunken, während der ÖPNV um zehn, der Fußgängeranteil um knapp 17 und das Rad um weit über 200 Prozent zugelegt haben. 

Zufall ist das nicht. Die Jahresnetzkarte für Öffis kostet einen Euro pro Tag, und die Stadt rollt Im wahrsten Sinne des Wortes den roten Teppich für Radfahrer:innen aus: Seit 2021 verstärkt Wien den Ausbau ihrer Radinfrastruktur. Bis 2023 wurden knapp 50 Kilometer neuer Radwege und Radanlagen vorgestellt. Im laufenden Jahr sind weitere 20 Kilometer geplant. Insgesamt sind im Zeitraum 2021 bis 2025 Investitionen in Höhe von 100 Millionen Euro vorgesehen. 

Im Fokus stehen dabei durchgehende, schnelle und möglichst baulich getrennte Radwege entlang der Hauptverkehrsrouten, sowie Zwei-Richtungsradwege und KFZ-verkehrsberuhigte Fahrradstraßen. Die benötigten Flächen werden weitestgehend durch die Umwidmung von Fahrspuren, die Umwandlung von Zweirichtungs- in Einbahnstraßen sowie die Reduzierung des Parkplatzangebots gewonnen. 

Mit Unterstützung niederländischer Radverkehrsexpert:innen wird Radler:innen seit Ende vergangenen Jahres zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt sogar ein 1,3 Kilometer langer und rot gefärbter Asphaltteppich ausgerollt: Auf der nun zur Fahrradstraße deklarierten Argentinierstraße haben Radler:innen Vorrang und können, anders als Autos, in beide Richtungen sowie nebeneinander fahren. Gepflasterter Streifen auf beiden Seiten der Fahrbahn sorgen für mehr Abstand zu parkenden Autos und plötzlich aufgestoßenen PKW-Türen. Hinzu kommt die Bereitschaft der Stadt, den Handlungsspielraum der novellierten Straßenverkehrsordnung in vollem Umfang zu Gunsten des Radverkehrs zu nutzen: Als erste Stadt Österreichs hat Wien für Radler:innen freie Fahrt bei Rot ermöglicht und mittlerweile an 469 Ampeln gestattet. 

Erstaunlich ist, wie geräuscharm die Radoffensive bisher über die Bühne gegangen ist. Flächenkonkurrenz ist schließlich auch in Wien kein Fremdwort, Meckerer gibt’s überall und die Donaumetropole ist sowieso für „ihre durchschlagende Unfreundlichkeit berüchtigt“, wie der Standard vor einiger Zeit die Ergebnisse einer Umfrage unter 12.000 Expats süffisant kommentierte. 

Der Politikwissenschaftler und Fahrrad-Enthusiast Ingwar Perowanowitsch führt das im Wesentlichen auf die Kommunikationsstrategie der Stadt zurück. „Statt groß anzukündigen, wie viele Parkplätze man pro Jahr abschaffen möchte“, schreibt er in einem Beitrag für Utopia, „richtet die Stadt den Fokus vor allem auf den Zugewinn an Lebensqualität, den verkehrsberuhigende Maßnahmen bewirken.“ Wien kann sich diese Strategie allerdings auch leisten: Radwege wurden bisher oft im Rahmen von sowieso fälligen Tiefbauarbeiten oder Maßnahmenpaketen zur Umgestaltung des öffentlichen Raum errichtet, so dass die Einschränkung des PKW-Verkehrs mit langfristigen Vorteilen für die Allgemeinheit einhergeht. Für Polarisierungsstrategien, die die Neuordnung öffentlichen Raums auf einen Kulturkampf zwischen MIV und Umweltverbund reduzieren, bleibt so wenig Platz. 

Tatsächlich kommt es oft genug genau andersherum. Kommunikationsexpert:innen zufolge liegt das nicht zuletzt auch am Verhalten der Kommunen. Maßnahmen für den Umweltverbund würden gern aktiv kommuniziert, ausschließlich dem MIV dienende Investitionen hingegen eher zurückhaltend. Unter dem Strich führe das Ungleichgewicht in der Kommunikation auch zu einem Ungleichgewicht in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger. Im Ergebnis, so das Fazit, würden Konflikte dadurch oft lauter als nötig.